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® schrieb am 9.4. 2011 um 23:37:28 Uhr über

ausstellung

Literaturmuseum Marbach

Rainald Goetz als Gesamtkunstwerk

Das Marbacher Literaturmuseum würdigt den größten Jetztschriftsteller: Die erste Ausstellung über Rainald Goetz wird zu einer großartigen Komposition.

© Chris Korner/DLA-Marbach


Verblasst im Laufe der Jahre auf den Fotos: Gerhard Schröder

Die berüchtigten Minuten vor der Lesung. Der Autor ist nervös. Er setzt sich, springt wieder auf, geht umher, während die Besucher langsam ihre Plätze einnehmen. Der Autor zieht seinen Mantel aus, dann wieder an, der Schal wird zurechtgerückt, der Mantel wieder abgelegt und über einen der Stühle gehängt. Er setzt sich erneut. Als ein paar der Gäste im Publikum, offensichtlich Journalisten, ihre Notizbücher zücken, tut der Autor es ihnen gleich und schreibt hektisch ein paar Zeilen hinein. Vor ihm auf einem Tischchen liegen: Zeitschriften, Bücher, eine Kladde.

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An der Längswand hängt Enzensbergers Landsberger Poesieautomat. »WORTFETZEN, FUSSSPUREN, FOSSILE PARADIESE« steht da. Hinter ihm sind diverse Zeitungsausrisse an die Wand gepinnt: Artikel mit Fotos von Angela Merkel bis Niklas Luhmann. Auch Wirtschaftsbosse sind zu sehen, Künstler, noch mehr Politiker. »Es ist kalt, mein Freund«, sagt der Autor lachendmehr zu sich als zu den Anwesenden – und hängt sich den Mantel um die Schulter.

Rainald Goetz eröffnet mit einer Lesung seine Ausstellung Politische Fotografie im ehrwürdigen Marbacher Literaturmuseum der Moderne. Lange hat man um ihn gebuhlt. Lange habe es gedauert, sagt Direktor Ulrich Raulff in seiner kurzen Begrüßung, Goetz zu überzeugen, im Rahmen der Reihe »Fluxus« einen Raum mit seinen Ideen und Exponaten zu bespielen.

Die Beharrlichkeit hat sich gelohnt. Der Auftaktabend vor Fans und Marbacher Archivaren ist eines jener seltenen Ereignisse, die einem den tieferen Sinn von literarischen Veranstaltungen vergegenwärtigen und die Lust am Text zurückbringen können: Hier geht es um die Praxis der Sprache, um ein Floaten zwischen Poesie, Analyse und feuilletonistischen Gemeinheiten, um Aufgekratztheit und Ordnungswahn, um das genaue Sehen.

Dass hier ein Autor die Lesung selbst als komponiertes Kunstwerk betrachtet und gleichwohl in einer vibrierenden, hypernervösen Form eine angenehme Zittrigkeit im Hirn des Zuhörers auszulösen vermag, das kommt nicht allzu häufig vor. Ganz selten kommt es überhaupt vor, dass Rainald Goetz öffentlich auftritt und liest.

»In den Katakomben der Konzentration« überschreibt er den Abend in den Katakomben Marbachs und widmet ihn dem kürzlich verstorbenen Journalisten Marc Fischer. Den großformatigen, an der Wand hängenden Bildern seiner Ausstellungvom Fukushima-Spiegelcover über Guttenberg-Boulevard-Trash bis zu einer Abbildung von Ernst Jüngers In Stahlgewitternstellt er jeweils assoziierte Passagen aus seinem »Schlucht«-Projekt gegenüber, Ausschnitte aus den Tagebuch-Romanen klage und loslabern.

Es sind darin jene Textruinen versammelt, die einmal einen großen, schließlich gescheiterten Roman über die Jahre der jungen Berliner Republik ergeben sollten. Nach dem Subsystem Nachtleben wandte sich Goetz Anfang der Nullerjahre den Dispositiven der Macht zu: Von Luhmann zu Foucault, von der Tanzfläche zu den Bundespressekonferenzen. Der Roman ist nicht entstanden oder eben in ganz anderer Formzersplittert und kleinteilig, die Gegenwart protokollierend und zugleich sezierend, an Details das Signum der Zeit festmachend.

© Chris Korner/DLA-Marbach


Ernst Jüngers »Stahlgewitter und «Bunte»-Cover gehören zur Ausstellung «Politische Fotografie" von Rainald Goetz im Literaturmuseum Marbach.

Die Erkundungen an den Schnittstellen von politischer und medialer Macht sind geniale literarische Snapshots, die ergänzt werden von tatsächlichen fotografischen Schnappschüssen. Wo Goetz in den letzten Jahren auch auftauchte, immer hatte er seine Pocketkamera mit dabei. Folgerichtig ist letztes Jahr das Buch elfter september 2010 erschienen, Bilder eines Jahrzehnts, auf denen Politiker ebenso verewigt sind wie Schriftsteller- und Nachtlebenfreunde, Journalisten und Künstler, Berliner Straßen und Baustellen. »Im Alltag der Stadt und in den Gesichtern der Menschen wütet die Zeit«, schreibt Goetz.

Immer schon ging es ihm auch um den Kern einer bestimmten Epoche, um ihr Wesen, um das Jetzige des Jetzt. Und tatsächlich werden die Snapshots zu symptomatischen Dokumenten dieser Jahre, die noch zu nahe sind, um sie einordnen zu können, undwenn man etwa Gerhard Schröder siehtschon wieder wie historische Momentaufnahmen wirken. »Jedes Bild sagt Nein zu jeder Reduktion der Worte« – will heißen, dass sich hier alles dem Betrachter rasend schnell erschließt und sich doch zugleich ein Assoziationsraum auftut, der mit Worten allein kaum durchschritten, höchstens noch vergrößert werden kann.

Die Lesung beweist das, wenn Goetz etwa ein Foto Karl Theodor zu Guttenbergs aus der Zeitschrift Bunte mit einer detaillierten Beschreibung des Unfalls von Jörg Haider aus seinem Buch loslabern kontrastiert, oder besser: Pointiert.

Die Marbacher Ausstellung selbst zeigt neben den großformatigen Wandbildern und in Vitrinen ausgebreiteten Arbeitsheften von Goetz eben jene Fotografien aus dem Band elfter september 2010. Es findet dabei eine seltsame Entauratisierung statt: Sind die Fotos im Buch durch Vergrößerung und vor allem die Umwandlung ins Schwarzweiße mit Bedeutung und geradezu dokumentarischer Wahrhaftigkeit aufgeladen, so erscheinen sie in ihrer ursprünglichen farbigen Form wie beiläufige Urlaubsbilder, die genauso gut in einem spießigen, stoffüberzogenen Fotoalbum aufbewahrt werden könnten. Das ist ein wunderbar banalisierender Effekt: Die emphatisch dargestellte Gegenwart schrumpft hier plötzlich auf eine unscheinbare Größe zusammen.

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Schriftsteller | Buch | Ausstellung | Kunst | Literatur Benjamin von Stuckrad-Barre und Gerhard Schröder etwa werden auf den Bildern zu Gestalten, die im Laufe der Jahre auf den Fotos einfach verblassen, an Farbe verlieren, in Goetz' Buch aber für lange emblematischen Charakter behalten werden. Goetz' »dokumentarischer Snapshotismus« ist, das wird einem hier noch einmal deutlich vor Augen geführt, sowohl in der Sprache, als auch in den Bilderzählungen von vorn bis hinten durchgeformt. Eben so, wie sein Auftritt selbst.

»Heute liest in Stuttgart der für mich größte Weltschriftsteller Michel Houellebecq«, meint Goetz am Ende seiner Performance. »Wer heute hier ist, kann dort nicht seinWohl wahr. Aber keiner, der in Marbach dem größten Jetztschriftsteller zugehört hat, dürfte es bereut haben.

Die Ausstellung »Politische Fotografie« ist noch bis zum 29. Mai im Marbacher Literaturmuseum der Moderne zu sehen.


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Leser-Kommentare
Kommentarseite 1 / 1

Rafael Wawer
09.04.2011 um 2:56 Uhr
1. Wg. Astronauten
Der erste Kommentar ist so einer der Gründe, warum ich seltenst Onlinekommentare lese...

Aber: Schön das, ich mag den Goetz, allerdings früher mehr als heute. Schade, dass der Goetz nicht mehr schreibt. Vielleicht sollte er sich solche Liveperformanceevents sparen. Weil, was soll man mit einem Schriftsteller, der nicht schreibt? Bei Kronos hört es bei mir jdf. ein bisschen auf, mit Abfall für alle und Klage hatte er mich noch, wg. der Blogs, damals, aber dann?

Herr Rüdenauer, gehen Sie mal hin und rütteln an ihm. Schriftsteller, die nicht schreiben, sind wie Astronauten, die zurück auf der Erde Gutenachtgeschichten vom Mond erzählen.




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