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wuming schrieb am 5.7. 2010 um 06:19:53 Uhr über

Reform

»Radikale Reform« des Gefängnissystems
Peter Mühlbauer 05.07.2010

In Großbritannien führt der Zwang zur Haushaltskonsolidierung zum Bruch mit alten Dogmen
Die neue britische Regierung aus Tories und Liberaldemokraten macht in mehrerlei Hinsicht nicht das, was europäische Beobachter von ihr erwarteten. So lockert etwa Außenminister William Hague das »besondere« Verhältnis zu den USA (das dem Labour-Premier Tony Blair den Ruf des »Pudels« von George W. Bush einbrachte), Finanzminister Osborne will (ganz anders als sein Kollege Wolfgang Schäuble) Reiche bei der Haushaltskonsolidierung stärker belasten als Arme und die kleinen Angestellten der Finanzbehörde können Sparvorschläge jetzt an ihren Vorgesetzten vorbei anonym via Wikileaks einreichen.


Nun sorgte der konservative Justizminister Kenneth Clarke für eine noch größere Überraschung: Er stellte in der ersten längeren Parlamentsrede seit seinem Amtsantritt den Sinn des seit den 1990er Jahren sowohl bei den Konservativen als auch bei Labour als Dogma gepflegten Grundsatzes infrage, dass eine Regierung um so effektiver Verbrechen bekämpft, je mehr Menschen sie einsperrt.

Die damit verbundene Politik führte dazu, dass in England und Wales im Mai 2010 mit 85.201 fast doppelt so viele Menschen inhaftiert waren wie 1992. Ein Anstieg, der jedoch nicht nur einem »härteren Durchgreifen« geschuldet war, sondern auch der Tatsache, dass alleine unter Tony Blair etwa 3.000 Straftatbestände neu geschaffen wurden - bei einer Regierungszeit von zehn Jahren macht das durchschnittlich etwa einen pro Werktag.

Gleichzeitig gilt London heute wegen der verbreiteten Gewaltkriminalität als die mit Abstand gefährlichste unter den europäischen Metropolen. Über die Hälfte dieser Verbrechen wird von Personen begangen, die schon eine oder mehrere Haftstrafen hinter sich haben. Clarke meinte, gemessen an seiner Fähigkeit, aus Straftätern gesetzestreue Bürger zu machen, habe sich das bisherige System als eine »Verschwendung öffentlicher Mittel« erwiesen und forderte deshalb eine »rehabilitation revolution« - umfassende Änderungen im Umgang mit Straftätern, »mit denen die Drehtür zwischen einem Verbrechen und seiner Wiederholung geschlossen wird«.


Das berühmte Dartmoor-Gefängnis. Foto P. Fletcher. Lizenz: CC-BY-SA.

Teil der Reformen soll sein, dass stärker auf andere Strafformen als auf Haft gesetzt wird. Darüber hinaus sollen gemeinnützige Vereine und private Firmen auf Basis von Erfolgshonoraren für eine Wiedereingliederung von Straftätern bezahlt werden. Inwieweit sich solche Zahlungen mit der geplanten Budgetkürzung in Höhe von insgesamt 25 Prozent in den nächsten vier Jahren vertragen, wird abzuwarten sein. Möglicherweise wirken sich die damit verbundenen Zwänge in einer Weise auf die Höhe dieser Zahlungen aus, dass sie eher einen Anreiz für Hilfsorganisationen als für profitorientierte Unternehmen darstellen - was nicht unbedingt von Nachteil sein muss.

Der überraschende Vorstoß könnte aber nicht nur ein Anlass dafür sein, zu überdenken, wen man in ein Gefängnis schickt, sondern auch, wie man den Aufenthalt in einem solchen so gestaltet, dass es Straftäter nicht zum Negativen, sondern zum Positiven verändert. Bisher sorgen unter anderem Mehrpersonenzellen, Umschlusszeiten und erzwungene Gemeinschaftsaktivitäten dafür, dass ein Gefängnisaufenthalt bei vielen Gewaltkriminellen weniger als Strafe, denn als Weiterbildungsmaßnahme gilt. Ein konsequentes Fernhalten der Gefangenen voneinander könnte nicht nur diesen Effekt in sein Gegenteil verkehren, sondern auch die in Strafanstalten obligatorischen schweren Menschenrechtsverletzungen unterbinden.

Clarkes Pläne gehen zu einem großen Teil mit alten Forderungen der Liberaldemokraten konform, weshalb von dieser Seite kein Widerstand zu erwarten ist. Allerdings ist noch unklar, wie viele Tory-Abgeordnete sie schlucken. Premierminister David Cameron unterstützte seinem Justizminister zwar demonstrativ im Parlament und forderte selbst eine »radikale Reform«, die der Strafvollzug nötiger habe, als jeder andere Bereich der öffentlichen Verwaltung. Dies hielt jedoch andere Konservative nicht davon ab, den Justizminister öffentlich für seinen Vorstoß zu kritisieren.

Michael Howard sagte der BBC beispielsweise, dass ihn Clarkes Ausführungen »nicht überzeugt« hätten und er bei seiner Linie aus den 1990er Jahren bleibe. Der damals von ihm eingeschlagene Weg sei zum Schutz der britischen Öffentlichkeit immer noch der beste. Damit befindet sich der ehemalige Thatcher-Minister ganz auf der Linie der Labour-Opposition, für die Schattenjustizminister Jack Straw ausgerechnet in der traditionell konservativen Daily Mail schreiben durfte, dass mehr Gefängnisstrafen auch mehr Sicherheit bedeuten - was eindrucksvoll belegt, wie untauglich die traditionellen Kennzeichnungen in der britischen Politik mittlerweile sind.



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