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Strafkolonie

InderStrafkolonie


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Verlagseinband der Erstausgabe 1919In der Strafkolonie ist eine Erzählung von Franz Kafka, die im Oktober 1914 entstand und 1919 veröffentlicht wurde. Einem Forschungsreisenden wird das Rechtssystem einer Strafkolonie vorgeführt. Es besteht darin, dass jeder Angeklagte unabhängig von seiner Schuld oder Unschuld von einem Apparat in minutiösem Ablauf stundenlang gefoltert und dann getötet wird. Den Apparat beschreibt Kafka als überdimensionalen Parlograph in der Funktionsweise eines Phonographen mit vibrierender Metallplatte und Nadel. Dieser Apparat ist der Hauptgegenstand der Erzählung [1], er repräsentiert dieEinheit von Schrift und Tod, von Ekstase und Thanatos“ [2].

Inhaltsverzeichnis [Verbergen]
1 Entstehungsgeschichte
2 Handlung
2.1 Die Justiz der Strafkolonie
2.2 Die indifferente Rolle des Reisenden
2.3 Die Exekution des Offiziers
2.4 Schlußfragmente
3 Form
4 Textanalyse
4.1 Das System und der Apparat
4.2 Der Reisende
4.3 Der Offizier
4.4 Der neue und der alte Kommandant
5 Interpretation
5.1 Schwierigkeiten der Deutung
5.2 Biografische Deutung
6 Zitate
7 Selbstzeugnis
8 Rezeption
9 Textausgaben
10 Sekundärliteratur
11 Einzelnachweise
12 Weblinks

Entstehungsgeschichte [Bearbeiten]
Die Erzählung entstand im Oktober 1914 während eines Arbeitsurlaubs, als Kafka eigentlich an dem Roman Der Process arbeiten wollte [3]. Im November 1916 liest sie Kafka in München im Rahmen einer literarischen Vortragsreihe vor kleinem Publikum, auch Rilke ist anwesend. Angeblich fallen mehrere Zuhörerinnen angesichts der vorgetragenen Grausamkeiten in Ohnmacht. Die Resonanz ist allgemein negativ. Ein Zeitungskritiker nennt Kafka einen Lüstling des Entsetzens [4]. Kafka plante ursprünglich eine Veröffentlichung der Strafkolonie zusammen mit Das Urteil und Die Verwandlung unter dem TitelStrafen“. Sein Verlag hielt jedoch eine solche Thematik für unverkäuflich [5]. Durch verschiedene Verzögerungen aufgrund der Skepsis seines Verlages erfolgte die Veröffentlichung als Einzelerzählung bei dem Verleger Kurt Wolff erst 1919. Der junge Journalist Kurt Tucholsky war sehr berührt von der Erzählung und schreibt dazu: „Seit dem Michael Kohlhaas ist keine deutsche Novelle geschrieben worden, die mit bewusster Kraft jede innere Anteilnahme anscheinend unterdrückt und doch so durchblutet ist von ihrem Autor.“ [6].

Handlung [Bearbeiten]
Die Justiz der Strafkolonie [Bearbeiten]
Ein hoch angesehener Forschungsreisender besucht eine abgelegene Insel, die eine Strafkolonie eines nicht näher genannten mächtigen Landes ist. Er wird eingeladen, an einer öffentlichen Exekution teilzunehmen. Diese wird durch einen seltsamen Apparat vorgenommen, der von dem verstorbenen Kommandanten der Insel entwickelt wurde. Die Maschine, deren Bedienung von einem offenbar eine richterliche Funktion ausübenden Offizier übernommen wird, besteht aus einer kompliziert gesteuerten Apparatur. Ihr Zweck ist es, dem Verurteilten das übertretene Gebot in den Körper zu ritzen, was nach einer langen, blutigen Prozedur schließlich zum Tode führt.

Der Offizier ist ein Befürworter des Apparates. Seit dem Tode des alten Kommandanten hat diese Bestrafungsform aber immer mehr Gegner gefunden. Zu ihnen kann man auch den neuen Kommandanten zählen. Der Kommandant hofft wohl auf kritische Äußerungen des Reisenden, welcher ein Experte auf dem Gebiet der Strafprozesse ist, um dieser Bestrafungsmethode ein Ende zu bereiten. Es ist eine Methode, die dem Angeklagten nicht einmal vor der Vollstreckung das Urteil verkündet, geschweige denn eine Möglichkeit zur Verteidigung lässt. Erst während der zwölfstündigen Qualen, die der Verurteilte auf sich nehmen muss, erkennt er angeblich an dem Schriftzug, der immer wieder und immer tiefer in seinen Körper eingeritzt wird, dessen Bedeutung.

Bei der anstehenden Exekution soll einem einfachen, fast debilen Soldaten, der als Diener eingeteilt war, und der angeblich seinem Herrn gegenüber ungehorsam war, der Schriftzug »Ehre deinen Vorgesetzten« eingeritzt werden. Ein anderer Soldat ist ihm zur Bewachung zur Seite gestellt. Zwischen beiden entsteht eine Art Kumpanei, die zu skurrilen Momenten führt.

Die indifferente Rolle des Reisenden [Bearbeiten]
Nachdem dem Reisenden in aller Ausführlichkeit der Aufbau und die Funktion dieses Gerätes erklärt wurde, ist alles für die Exekution vorbereitet. Der Reisende aber schlägt die Bitte des Offiziers ab, sich gegenüber dem neuen Kommandanten positiv zu der Bestrafungsmaschine zu äußern. Der Offizier hatte gehofft, so den Fortbestand der Maschine sichern zu können. Der Reisende versichert dem Offizier jedoch, sich auch nicht öffentlich negativ über diese Maschine zu äußern. Er will seine Abneigung gegen diesen Apparat dem Kommandanten nur unter vier Augen mitteilen. Er missbilligt zwar die Inhumanität des ganzen Vorganges, da er aber kein Bürger des der Strafkolonie zugehörigen Landes ist, sei er auch nicht befugt, über sie zu urteilen.

Die Exekution des Offiziers [Bearbeiten]
Als der Offizier merkt, dass er seinen Besucher nicht überzeugen kann, lässt er sofort die Maschine abstellen. Der Verurteilte wird aus der Maschine befreit und folgt dem wachhabenden Soldaten, um seine bereits entsorgten Kleidungsstücke zu holen. Stattdessen legt sich nun der Offizier in die Maschine. Die Maschine ist so umgestellt, dass sie ihm »Sei gerecht« in den Rücken ritzt.

Plötzlich heben sich Zahnräder aus den Schaltkästen der Maschine und der gesamte Apparat scheint auseinander zu springen. Die Exekution vollzieht sich jetzt wesentlich schneller. Nach dem Eintreten des Todes ist dem Offizier aber kein Zeichen der Erlösung im Gesicht anzusehen, wie dieser den Ausdruck anderer Verurteilter selbst begeistert beschrieben hatte. Der Verurteilte, selbst kurz zuvor noch von einem verhängnisvollen Schicksal in der Foltermaschine bedroht, schaut, nun selbst von der Maschine begeistert, nicht mit Mitleid, sondern vielmehr mit primitiven Rachegelüsten, dem grausamen Spektakel zu.

Nach dem Tod des Offiziers und der Zerstörung der Maschine macht sich der Reisende, gefolgt von dem Soldaten und dem Verurteilten, auf den Weg zum Grab des alten Kommandanten, welches er noch vor der Abreise zu sehen wünscht. Er entschließt sich jedoch direkt danach überstürzt zur Abreise, und versucht letztendlich mit allen Mitteln zu verhindern, dass der Soldat und der Verurteilte ebenfalls die Insel verlassen können, was ihm auch gelingt.

Schlußfragmente [Bearbeiten]
Es existieren drei fragmentarische Schriften vom August 1917 [7], in denen Kafka neue Schlußvarianten ausprobiert. Der Reisende ist dabei jeweils psychisch und physisch sehr erschöpft, einmal scheint er fast den Verstand zu verlieren. Plötzlich taucht auch - ähnlich einer Geistererscheinung- der hingerichtete Offizier auf mit dem aus der geborstenen Stirn hervorragenden Stachel.

Form [Bearbeiten]
Die Erzählung lässt sich in drei Abschnitte gliedern [8]:

Demonstration der Exekutionsmaschine
das missglückte Selbstopfer des Offiziers
der Reisende verlässt die Insel
Im ersten Abschnitt beschreibt der Offizier in typisch kafkaesker Art etwas Schockierendes im Tonfall des Selbstverständlichen. Er offeriert den Folterapparat sorgfältig und detailgetreu, so als handele es sich um die Gebrauchsanweisung eines Alltaggerätes. Im weiteren dramatisiert der Offizier in seiner Vorstellung seine Hoffnungen, die sich an den Reisenden richten. Hier ist die Rede von Ausrufen und Fragen gekennzeichnet.

Im zweiten Abschnitt wird der Kollaps der Maschine erzählerisch unspektakulär durch kurze unaufgeregte Sätze behandelt. Hier wird ein ruhiges Ausklingen deutlich, wie es eigentlich erst in einer Schlußpartie zu erwarten wäre. Es könnte damit - für den Reisenden und für den Leser - der würdige Mitvollzug des Unterganges signalisiert werden.

Der dritte Abschnitt bleibt lakonisch-nüchtern. Keine Spannungsabläufe oder sprachliche Kunstgebilde halten den Ablauf auf. Ähnlich wie der Reisende das Geschehen schnell hinter sich lassen will, strebt die Geschichte verbal ohne sprachliche Hindernisse und Schnörkel dem Ende entgegen.

Die Perspektivfigur, die dem Leser eine Innenansicht gewährt, ist der Reisende. Er ist aber nicht der eigentlich Betroffene bzw. das Opfer. Der Offizier, der sich sehr engagiert, ja pathetisch äußert, gibt andererseits nichts von seiner tatsächlichen, augenblicklichen inneren Gefühlswelt preis. So ergibt sich eine anonyme Erzählperspektive, die keine Identifizierung mit einer der Personen zulässt.

Textanalyse [Bearbeiten]
Das System und der Apparat [Bearbeiten]
Das geschilderte Strafverfahren verletzt in mehrfacher Hinsicht die Grundsätze der modernen Zivilisation, da es dem Gedanken der Gewaltenteilung widerspricht [9]. Das geschriebene Gesetz sind die Zeichnungen mit verschlungenen, bezeichnender Weise für den Reisenden nicht lesbaren Buchstaben und Ornamenten, die den Tötungsapparat steuern und so das Urteil vollstrecken. Der Offizier ist Richter und als Bediener des Apparates Vollstrecker gleichzeitig. Der Delinquent weiß nichts von seiner Anklage und dem Urteil. Eine Verteidigung gibt es nicht, da die Schuld »immer zweifellos« ist.

Das Schicksal des Angeklagten steht nicht im Vordergrund. Bereits der erste Satz der Erzählung macht deutlich, dass nicht der Mensch sondern »ein eigentümlicher Apparat« das Zentrum der Aufmerksamkeit bildet [10]. Der Folter- und Tötungsapparat ist eine mechanisch-elektrische Maschine, die durch Zeichenblätter (ähnlich Lochkarten) in ihren Arbeitstakten gesteuert wird. Sie entfaltet nicht nur gegenüber dem Offizier, sondern auch zunehmend gegenüber dem Reisenden, der ja dieses System der Strafverfolgung eigentlich verabscheut, ihre Faszination. In ihr verbinden sich technische Präzision mit der Hoffnung auf tiefere Unrechtserkenntnis. Aber beide Momente scheitern: der Apparat kollabiert; der Offizier erkennt offensichtlich gar nichts im Moment des Todes.

Der Reisende [Bearbeiten]
Der Reisende, dem eine Richterfunktion über das Straf- und Vollzugswesen der Insel zugebilligt wird, ist eine kühl zweifelnde Forschernatur, aber er gibt sich ambivalent in der Strafkolonie und erliegt auf Dauer doch fast der grausigen Anziehung der Maschine und auch des alten Kommandanten [11], dessen universelle technische Fähigkeiten er bewundert. An dessen Grab »fühlte er die Macht der früheren Zeiten«.

Natürlich ist er gegen Folter und das sie zulassende Rechtssystem, aber es ist eine Ablehnung aus formalen Gründen. Die Rechtsordnung der Insel genügt nicht den Kriterien seiner europäischen Rechtsvorstellungen. Der Reisende scheint nicht menschlich berührt oder wirklich angewidert von der Grausamkeit des Bestrafungs- und Tötungsvorganges [12].

Am ehesten ist er beeindruckt davon, wie der Offizier im völligen Glauben an die Sache das Urteil der Maschine an sich selbst vollziehen lässt („der Reisende hätte an seiner Stelle nicht anders gehandelt“). Es ist also diese in sich geschlossene Prinzipientreue, die anerkannt, ja bewundert wird.

Im Vergleich zum Offizier ist er wortkarg. Das Unrecht ist himmelschreiend, aber er will seine Ablehnung nicht laut verkünden, sondern dem neuen Kommandanten gegenüber nur unter vier Augen darlegen.

Der Reisende ist kein Tatmensch, sondern ein Intellektueller. Er will sich nicht mit den zwei einfachen Männern, dem Verurteilten und dem Soldaten, gemein machen, will sozusagen nicht mit ihnen in einem Boot sitzen. So verscheucht er sie am Ende von seinem Boot und verurteilt sie, weiter auf der Insel zu bleiben.

Der Offizier [Bearbeiten]
Im Gegensatz zum Reisenden ist der Offizier, der sich einmal selbst als Gerichtspräsident bezeichnet, voller (pervertierter) Begeisterung. Er bewundert den alten Kommandanten, welcher der Erfinder und Erbauer des Apparates war, hemmungslos und er trägt dessen Steuerungszeichnungen für den Apparat in seiner Brusttasche (also auf dem Herzen). Der Offizier hat sogar versucht, den unwürdig begrabenen Leichnam des Kommandanten aus dem Grab zu holen.

Auffallend ist, wie oft der Offizier in eher unsoldatischer Art körperlichen Kontakt zum Reisenden aufnimmt. Er erfasst dessen Hände, hängt sich in seinen Arm, umarmt ihn sogar. Er möchte seine Begeisterung auf den Reisenden übertragen und ihn beschwören, sich auch für den Erhalt des Apparates einzusetzen. Er denkt sich Inszenierungen aus, wie er das erreichen könnte.

Er glaubt wirklich daran, dass der Apparat Gerechtigkeit übt, deshalb unterzieht er sich ohne Zögern selbst der grausamen Prozedur, die vorher für den Verurteilten bestimmt war und an ihm wird sie bis zum Ende vollzogen. Eigentlich hat der Offizier wesentlich menschlichere Züge als der Reisende, sie werden aber völlig beherrscht von der fatalen Faszination, die der Apparat und sein Schöpfer auf den Offizier ausüben. So werden diese positiven Eigenschaften ad absurdum geführt. Aber seine Existenz beinhaltet eine gewisse tragische Würde [13].

Der neue und der alte Kommandant [Bearbeiten]
Beide Kommandanten erscheinen nicht direkt in der Geschichte, sondern nur in der Beschreibung des Offiziers. Während der Offizier für den alten Kommandanten ein vertrauter, enger Mitarbeiter war, ist der neue Kommandant für den Offizier kaum erreichbar.

Der neue Kommandant befürwortet die alte Rechtspraxis nicht, er stellt sich aber auch nicht entschieden gegen sie. Er wird vor allem charakterisiert durch den ihn umgebenden Damenschwarm. So entsteht ein absolut unsoldatisches Bild. Die Damen werden wie Accessoires des Kommandanten dargestellt, ähnlich einem Rudel Rassehunde. Die Damen beherrschen die Szene und prägen in verspielt-weibischer Art die Vorgänge. Auch aus dieser Damengruppe kommt keine Betroffenheit über die grausame Praxis.

Der alte Kommandant war eine fesselnde Persönlichkeit, der nicht nur den Offizier, sondern auch viele andere in seinen Bann geschlagen hat. Über seinem Wirken und seinem Tod liegt ein finsteres Geheimnis, da der Geistliche seine Beerdigung auf geweihtem Boden nicht zugelassen hat. An seiner Grabstätte im Teehaus spürt auch der Reisende den Eindruck einer historischen Erinnerung. Da der Grabstein von Wiederauferstehung spricht, wird hier dem alten Kommandanten eine religiöse Bedeutung zugeordnet. Seine Anhänger sind eine Geheimbruderschaft, die darauf wartet, dass der alte Kommandant wieder aufersteht und ihnen zur alten Macht verhilft.

Interpretation [Bearbeiten]
Schwierigkeiten der Deutung [Bearbeiten]
Es gibtwie meist bei Kafkaviele verschiedene, aber keine abschließend befriedigende Deutung für die Erzählung.

In einer weltlichen Lesart erscheint die Erzählung als Gleichnis einer fanatischen Ideologie und eines diktatorischen Machtapparates, der den Menschen zum Maschinenfutter degradiert. In einem solchen totalitären System sind Gesetzgebung, Richtfunktion und Henkersamt eins, wie sie sich auch im Offizier der Strafkolonie vereinen. Es gibt keine ernst zu nehmende Verteidigung, und das Merkmal der Unrechtsprechung ist die Willkür. [14]

In einer metaphysischen Lesart hat die Erzählung etwas mit atavistischen Blutreligionen zu tun; sie stellt den öffentlichen und rituellen Vollzug eines im Grunde willkürlich bestimmten Menschenopfers dar. Das Opfer stirbt zur Satisfaktion einer Götterwelt, die von Menschlichkeit im modernen Sinne noch nichts gehört hat. [15]

Aber auch mit zivilisatorischen Religionsvorstellungen hat die Erzählung zu tun, denn das Opfer gelangt durch den Schmerz zu einer möglichen erlösenden und verklärenden Einsichtin die Wahrheit der Schuld und in den Sinn des Leides. Die Schuld wäre eine wie die Erbsünde mit dem Dasein selbst gesetzte Schuldnur so kann sie »immer zweifellos sein« -; jedes Einzelvergehen wäre nur die aufscheinende Gestalt einer existentiellen Schuldhaftigkeit. [16]

Ein enger Zusammenhang besteht zu den Schuld- und Strafphantasien des Romans Der Process [17]. Ein Ansatz besagt z.B., der Text sei als Gleichnis aufzufassen und die Maschine sei ein Symbol für das menschliche Schicksal. Laut dieser Interpretation kennt der Mensch vor derVollstreckungdas Urteil nicht und kann sich auch nicht verteidigen. Unabhängig von einzelnen Deutungsansätzen ist der Satz »Die Schuld ist immer zweifellos« eine zentrale Aussage, die in die verschiedenen Aspekte der Erzählung verweisen [9]. Es mag sein, dass Kafka die eigene Erfahrung des Schreibens als Annäherung an ein Absolutes, das nur durch den Tod erreichbar scheint, verarbeitet hat [18].

Die verstörende Erzählung, die von vielen alsprophetische Vision der unvorstellbaren Grausamkeiten“ angesehen wird, die mit dem Beginn der totalitären Barbarei im 20. Jahrhundert von Menschen an Menschen verübt wurden, verfasste Kafka etwa zwei Monate nach Beginn des Ersten Weltkriegs, als Kriegsgräuel noch kaum auftraten. Der Verleger Kurt Wolff zögerte mit der Veröffentlichung. Er fürchtete man könne darin eine Allegorie des Krieges sehen.

Kafkas Haltung zum Krieg ist von Widersprüchlichkeiten geprägt. In einer lakonischen Notiz vom 2. August 1914 schreibt er: » Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt - Nachmittag Schwimmschule« [19]. Er spricht z. B. vomHass gegen die Kämpfenden“, denen er mit Leidenschaft alles Böse wünsche, und beschreibt die patriotischen Umzüge, die auch in Prag abgehalten wurden, als „widerlichste Begleiterscheinungen des Krieges“. Andererseits bemühte er sich um eine Aufnahme in das Militär, um nach Beginn des Weltkriegs an die Front zu kommen, wie er es in Briefen an Felice Bauer ausführlich darstellt.

Biografische Deutung [Bearbeiten]
Die Entstehung der Erzählung folgt einem häufig bei Kafka auftretendem Muster. Er scheitert bei dem Versuch einen seiner drei Romane zu beenden, hier den Process. Gleichzeitig erschafft er aber eine meisterhafte Erzählung.

Die vorliegende Geschichte entstand unter dem Einfluss des Ersten Weltkrieges. Man mag aber auch an mittelalterliche Folterszenen denken [20]. Auch aus seinem Arbeitsleben als Betriebsunfallexperte wusste Kafka sehr genau, wie Maschinen den Körper von Menschen zurichten können [21]. Auch zum Arbeitsleben seiner Verlobten Felice Bauer gibt es hier eine Entsprechung [22]. Der Apparat, der Metall in Fleisch eingräbt, erinnert an die frühen Formen der Phonographen, die z.T. in Wachs schreiben. Felice war als Prokuristin in einer Firma (Lindstöm AG) zuständig für den Verkauf von Parlographen (Diktiergeräten), die eine elektroakustische Weiterentwicklung dieses Phonographen waren.

Hier geht es aber nicht nur um ein öffentliches Thema, das Menschenrechte und deren Missachtung zum Inhalt hat. Kafka wurde nicht nur von äußeren politischen Ereignissen umgetrieben. Auch hier spiegelt sich zusätzlich ein Kafka persönlich stark bewegendes Thema, auch wenn die üblichen Vater-Sohn-Konflikte oder die Künstler-Problematik fehlen.

Kafka war von dem (früh verbotenen) Roman von Octave Mirbeau Der Garten der Qualen („Le Jardin des supplices“) mit seinen sadomasochistischen Folterszenen, von Reiseberichten über eine Erkundungsfahrt deutscher Kolonialbeamter in den Pazifik, aber auch von Schriften seines Doktorvaters Alfred Weber aus dem Rechtsstudium beeinflusst.[23] [24].

An Milena Jesenská schreibt er im November 1920 „..ich beschäftige mich mit nichts anderem als mit Gefoltert-werden und Foltern“. An die Freundin Grete Bloch schreibt er am 18. November 1913: „Die Lust, Schmerzliches möglichst zu verstärken, haben Sie nicht?“.[25] Heinz Politzer bezeichnet Kafka alsMystiker des Masochismus“.[26]

Der selbstquälerische Aspekt dokumentiert sich auch immer wieder in seinen Tagebuchaufzeichnungen. Er leidet, wenn er nicht schreiben kann; er leidet aber auch, wenn er schreibt, weil er damit meist unzufrieden ist. Momente der künstlerischen Erfüllung sind sehr selten. Das Schreiben ist ein quälender Zwang [27] und eine tiefe, allerdings seltene Befriedigung gleichzeitig.

Zitate [Bearbeiten]
Hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann ..zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, dass er dem Mann gerade in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern. Natürlich muß der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird.
Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde. Verstand geht dem Blödsinnigsten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja nichts weiter, der Mann fängt bloss an, die Schrift zu entziffern....unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden.
Der Reisende überlegte: Es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger der Strafkolonie, noch des Staates, dem sie angehörte.. Man konnte ihm sagen. Du bist ein Fremder, sei still.
Selbstzeugnis [Bearbeiten]
Kafka Brief an Verleger Kurt Wolff am 4. September 1917[28]: »Hinsichtlich der Strafkolonie besteht vielleicht ein Mißverständnis. Niemals habe ich aus ganz freien Herzen die Veröffentlichung dieser Geschichte verlangt. Zwei oder drei Seiten kurz vor dem Ende sind Machwerk, ihr Vorhandensein deutet auf einen tieferen Mangel, es ist da irgendwo ein Wurm...«

Rezeption [Bearbeiten]
Ries (S.70 ff.) sieht in der Strafkolonie Bezüge zu Freud (Totem und Tabu, Das Ich und das Es) sowie zu Nietzsche (Mnemonik des Schmerzens).
Höfle (S.82 ff.) stellt die Interpretationsvielfalt über die vergangenen Jahrzehnte hinweg dar. Er entwirft als einen möglichen Deutungsansatz, dass im Reisenden der Leser selbst zu sehen sei und mit jedem Lesen die Welt des alte Kommandant aufs neue aufersteht.
Sudau (S. 133) weist darauf hin, dass für Kafka der Schmerz und das Leiden das eigentliche Faktum der Existenz war. Durch den Anhauch des Religiösen (Neues Testament, Kreuzigung Jesu) rücken die Vorgänge auch an zivilisierte Religionsvorstellungen heran. Hier liegt der Themenkomplex Schuld, Gericht und Strafe vor, der nicht nur Gesellschaftskritik berührt, sondern existentielle und religiöse Bedeutung hat.
Textausgaben [Bearbeiten]
Erstausgabe
Franz Kafka. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Paul Raabe. Fischer-Taschenbuch-Verlag, 1970. ISBN 3-596-21078-X.
'Franz Kafka in der Strafkolonie historisch kritische Ausgabe Herausgegeben von Roland Reuß im Stroemfeld Verlag
Sekundärliteratur [Bearbeiten]
Wiebrecht Ries: Kafka zur Einführung, Junius Verlag, 1993, ISBN 3-88506-886-9
Walter Jens: Kindlers Neues Literaturlexikon, 1990, ISBN 3-463-43009-6
Ralf Sudau Franz Kafka: Kurze Prosa/Erzählungen, 2007, ISBN 978-3-12-922637-7
Suhrkamp Basisbibliothek Franz Kafka In der Strafkolonie Kommentar Peter Höfle, 2006, ISBN 978-3-518-18878-1
Peter-André Alt: Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie. Verlag C.H. Beck, 2005. ISBN 3-406-53441-4
Urban, Cerstin: Franz Kafka: Erzählungen II. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 344). Hollfeld: Bange Verlag 2004. ISBN 978-3-8044-1756-4
Reiner Stach: Kafka Die Jahre der Entscheidungen, S. Fischer Verlag 2004, ISBN 978-3596161874
Einzelnachweise [Bearbeiten]
1.↑ Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Verlag C.H. Beck München 2005 ISBN 3-406-53441-4, S.480
2.↑ Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Verlag C.H. Beck München 2005 ISBN 3-406-53441-4, S. 486
3.↑ Literaturwissen Franz Kafka Carsten Schlingmann Reclam S.93
4.↑ Alt S. 477
5.↑ Alt S.476
6.↑ Alt S.192
7.↑ Peter Höfle Franz Kafka In der Strafkolonie Suhrkamp Basis Bibliothek S.45 ff.
8.↑ Ralf Sudau Franz Kafka: Kurze Prosa/Erzählungen 2007 ISBN 978-3-12-922637-7 S. 143 ff.
9.↑ a b Peter-André Alt: Franz Kafka: Der ewige Sohn. Verlag C.H. Beck München 2005 ISBN 3-406-53441-4, S. 482
10.↑ Alt S. 480
11.↑ Alt S. 489
12.↑ Alt S. 138
13.↑ Peter-André Alt S. 140
14.↑ Sudau S. 130
15.↑ Sudau S. 134
16.↑ Sudau S. 135
17.↑ Wiebrecht Ries Kafka zur Einführung 1993 Junius Verlag ISBN 3-88506-886-9 S. 73
18.↑ Alt S. 489
19.↑ Alt S. 385
20.↑ Alt S. 482
21.↑ Reiner Stach Kafka Die Jahre der Entscheidungen S. Fischer Verlag 2004 ISBN 3-596-16187-8 S. 557
22.↑ Alt S.277
23.↑ Franz Kafka Erzählungen II Cerstin Urban S.43 Königs Erläuterungen
24.↑ Alt S.493
25.↑ Alt S.485
26.↑ Ralf Sudau Franz Kafka: Kurze Prosa/Erzählungen 2007 ISBN 978-3-12-922637-7 S.132
27.↑ Alt S.589
28.↑ Suhrkamp Basisbibliothek Franz Kafka In der Strafkolonie Kommentar Peter Höfle 2006 ISBN 978-3-518-18878-1 S.52



Weblinks [Bearbeiten]
Wikisource: In der StrafkolonieQuellen und Volltexte
Digitalisierter Volltext von In der Strafkolonie bei Zeno.org
Die Erzählung im Volltext der Erstausgabe von 1919 bei
gutenberg.spiegel: In der Strafkolonie
in der Freien digitalen Bibliothek: DigBib.Org: In der Strafkolonie
integrale Theaterfassung des deutschen kafka theaters www.hamlet-theater.de
Kostenlose Fassung als Hörbuch:
Hörspielpool des Radiosenders Bayern 2, Regie Ulrich Gerhard, BR 2007, 73:06 Min., mp3@128kbps 50.2 MB
www.theateraufcd.de, Leser Martin Schlederer, 2003, 66 Min., mp3@128kbps 49.3 MB
www.vorleser.net, Leser Johannes Gabriel, 2006, 72 Min., mp3@128kbps 49.5 MB
librivox.org, Leser Markus Wachenheim, 69:50 Min., mp3@64kbps 33.5 MB, mp3@128kbps 67.0 MB, ogg vorbis 38 MB
Beispielinterpretationen:

[1]
[2]
EinklappenWerke von Franz Kafka
Zu Lebzeiten veröffentlicht: Ein Damenbrevier | Gespräch mit dem Beter | Gespräch mit dem Betrunkenen | Die Aeroplane in Brescia | Richard und Samuel | Großer Lärm | Betrachtung | Das Urteil | Der Heizer | Die Verwandlung | Vor dem Gesetz | Der Mord | Ein Brudermord | In der Strafkolonie | Ein Landarzt | Der Kübelreiter | Ein Hungerkünstler

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